Spenden!

Wenn die Lektüre dieses Blogs für Sie in irgendeiner Weise wertvoll, interessant oder anregend ist und Sie Ihrer Wertschätzung Ausdruck verleihen wollen, dann gibt es neben der Möglichkeit, mir zu schreiben jetzt auch die Gelegenheit, mir ein Trinkgeld zu geben. Näheres dazu findet sich auf meiner Tipeee-Seite:

Samstag, 13. April 2019

Der 52. Tag: 13. April 2019

Geising - Lauenstein und Rückfahrt

Schon gestern Abend hatte ich den Gedanken, aus Wettergründen die Wanderetappe heute abzuschließen und zurück nach Köln zu fahren. Das habe ich in die Tat umgesetzt. Zwar war das Wetter heute Morgen freundlicher als gestern, aber noch immer sind die Temperaturen so, dass ich nicht mit offener Neugierde durch die Gegend schlendern oder draußen stehend Rezitationen abhalten wollte.
Doch der Reihe nach. In dem sehr netten Gasthof in Geising, wo ich am Abend untergekommen bin, fand eine Veranstaltung der Biathleten der Region statt. Das war in dieser Woche das vierte Mal, dass es in dem Haus, in dem ich übernachtet habe, eine große Feier oder eine Versammlung gab. Zufall oder wird im Erzgebirge viel gefeiert? Teilweise waren die Zusammenkünfte Vereinsaktivitäten und verweisen auf Art 9 GG: Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.

Am Morgen saß ich beim Frühstück mit dem einen anderen Übernachtungsgast am Tisch. Wir kamen ins Gespräch und er erzählte, dass er aus der Pfalz stammt und hier in Geising vor 20 Jahren "mit Förderung des Bauministeriums" ein größeres Wohngebäude mit mehreren Einheiten gekauft und renoviert hat. Ein Immobilienunternehmer also und ich habe die Gelegenheit ergriffen, ihn nach seiner Meinung zu der Enteignungsdebatte in Berlin zu fragen. Seine Antwort lief darauf hinaus, einen Unterschied zwischen Unternehmern wie ihm und den großen Konzernen, die als AGs börsennotiert sind, zu machen. Letztere sind in viel ausschließlicherer Art an Renditemaximierung interessiert. Das Wohl der Mieter spielt da eine untergeordnete Rolle.
Das leuchtet mir ein und daraus könnte man auf eine besondere Lösung des Problems schließen. Artikel 15 GG spricht ja von "Vergesellschaftung oder anderen Formen der Vergemeinschaftung". Statt die Deutsche Wohnen AG zu enteignen und die Stadt Berlin zur Eigentümerin zu machen, sollte man das Unternehmen oder den Wohnungsbestand in eine Genossenschaft überführen. Überhaupt wäre zu überlegen, ob der Staat in Einklang mit den Grundrechten vermeiden müsste, dass ein Grundbedürfnis (ein Leitthema dieser Woche!) wie das Wohnen von rein wirtschaftlich ausgerichteten großen Unternehmen als Ware behandelt werden darf. Ein mehrheitlich genossenschaftlich ausgerichteter Wohnungsmarkt hätte nicht zu einer so dramatischen Situation geführt, wie sie heute in vielen deutschen Städten herrscht. Das GG würde hier mit Artikel 14 und 15 einiges erlauben.

Das Frühstücksgespräch streifte noch andere politische Themen und der pfälzische Unternehmer sah die neoliberale Dominanz des Geldes in unserer Gesellschaft durchaus kritisch. Ich habe mit ihm auch über die GG-Wanderung gesprochen. Er fragte, ob ich vom Innenministerium oder vom Bundespräsidenten gesponsert würde. Ex-Präsident Gauck sei doch auch gerade in Sachen Deutsche Einheit unterwegs. Damit spielte er auf eine Sendung an, die vor ein paar Tagen lief und die ich zufällig ebenfalls gesehen hatte. Gauck traf sich darin mit verschiedenen Leuten, um mit ihnen zu sprechen, u.a. mit einem Pegida-Aktivisten und mit Frauke Petry. Die verkörpert ja eigentlich  eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte und Gauck hat recht, wenn er ihr Gerede von der Ohnmacht der Bürger mit Hinweis auf ihren Werdegang als falsch bezeichnet.
Jedenfalls war mein Gesprächspartner ganz interessiert an meiner GG-Aktion und hat sich ein Kärtchen mitgenommen. Auch der Gastwirt zeigte sich neugierig und so bin ich noch eine Karte losgeworden und habe mich frohen Mutes auf den Weg nach Lauenstein gemacht.
In Geising sprach mich noch eine Frau auf der Straße an und fragte, wo ich denn hinwandere.

Auf dem Weg nach Lauenstein war zu bemerken, dass ich das Erzgebirge gerade verlasse. Die Landschaft wurde sanfter und freundlicher.
 Lauenstein ist ein hübsches Dorf mit Burg und einem alten Ortskern. Am Morgen waren auf den Straßen Bewohner mit Schaufel und Besen hantierend zu sehen, die die Wege und Plätze vom Winter reinigten. Die Bäckerin erzählte, das würde einmal im Jahr an einem Frühlingssamstag gemeinschaftlich gemacht. Da ist sie wieder, die Gemeinschaft. Außerdem erinnert mich die Aktion an Art. 12 GG, wonach niemand zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden darf, "außer im Rahmen einer herkömmlichen, allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht". Auf freiwilliger Basis ist eine solche Arbeit viel gemeinschaftsfördernder.

In Lauenstein bin ich in den Zug gestiegen.

Gibt es ein Fazit der Wanderwoche? Nach meiner Erfahrung, die man nicht ohne weiteres verallgemeinern kann, sind die Leute hier freundlicher und offener als ich das in anderen Regionen auf meinem Weg durch die Republik erlebt habe. Nirgendwo bin ich so oft gegrüßt worden, oft mit einem Spruch oder einer Frage verbunden. Andererseits ist es mir schwer gefallen, Menschen zu finden, die mit mir über die GG-Wanderung sprechen wollten. Das hatte diese Woche sicher auch damit zu tun, dass außer mir kaum jemand unterwegs gewesen zu sein scheint. Ich habe keinen einzigen anderen Langstreckenwanderer getroffen. Dementsprechend habe ich mich meistens mit mir selbst unterhalten und die Anregungen sozusagen am Wegesrand gesucht. Die Zahl dieser Anregungen hat mich nicht gerade überfordert, auch wenn es ein paar inspirierende Überraschungen gegeben hat. Die Kulturdichte ist im Erzgebirge nicht ungewöhnlich hoch und die kulturhistorischen Zeugnisse aus dem Bergbau und der spätmittelalterlichen Glasherstellung besitzen wenig Relevanz für das Thema Grundrechte. Auch aus der erzgebirgischen Volkskunst konnte ich für das GG wenig Funken schlagen.
Aber es gefällt mir gut, dass die Anregungen eher abseits zu finden waren.

Jetzt heißt es nochmal durchatmen und Mitte Mai geht es dann weiter mit der finalen Wanderetappe, an deren Ende ich spätestens am 23. Mai in Görlitz ankommen möchte. Es gibt Pläne für eine kleine Veranstaltung dort, über die ich noch genaueres mitteilen werde. Außerdem haben bereits einige Freundinnen und Freunde der GG-Wanderung ihre Absicht bekundet, zum Wanderfinale nach Görlitz zu kommen und/oder ein paar letzte Etappen mitzuwandern. Wer sich dort noch anschließen möchte, ist dazu herzlich eingeladen.

Fundstücke:


Installationen 1+2


Freitag, 12. April 2019

Der 51. Tag: 12. April 2019

Neuhermsdorf - Altenberg - Geising

Wer hätte gedacht, dass sich die April-Etappe zu einer Winterwanderung entwickeln würde? Es ist wohl überall in Deutschland gerade kalt; hier im Erzgebirge hat es am Morgen, als ich aus dem Hotel trat, begonnen leicht zu schneien. Schneegriesel nennt man das, glaube ich. Eingepackt in so ziemlich alles, was mein Rucksack an warmen Kleidungsstücken zu bieten hat, bin ich losgegangen. Statt dem WDE zu folgen, bin ich bald auf dem Kammweg gelandet, der in diesem Teilstück auf einer anderen Strecke verläuft. Der Grund dafür ist schlicht, dass ich gleich zweimal die Abbiegung des WDE verpasst habe.
Das hat sich am Ende als gleich zweifacher Vorteil erwiesen. Der erste bestand darin, dass ich auf den Kahleberg gewandert bin, der 905 Meter hoch ist und damit höher als der Hirtstein, von dem ich Anfang der Woche annahm, er sei der höchste Berg, den ich auf dieser GG-Wander-Etappe besteigen würde. Jetzt ergab sich die Gelegenheit, meiner schon fast alt zu nennenden Gewohnheit nachzugehen und auf dem Gipfel eine Rezitation der Grundrechte zu machen.
Die erste und einzige Rezitation des Tages fand um 11.30 h statt.

Ich werde hier nicht darüber lamentieren, wie kalt es da oben war, aber ich hoffe inständig, dass dies die einzige Rezitation bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt bleiben wird. Eine echte Herausforderung. Doch - der Kältekalauer sei mir verziehen - das GG gilt auch unter Null Grad Celsius.
Nein, es gab bei der Rezitation kein Publikum, obwohl der Betreiber der (geschlossenen) Baude kurz aus der Tür trat, sich wunderte, was ich da wohl treibe, schnell erkannte, dass ich keine Gefahr darstelle und wieder verschwand.



Nach der vergleichsweise schnell vollzogenen Rezitation machte ich mich an den Abstieg nach Altenberg, und der zweite Vorteil des mehr oder weniger freiwillig gewählten Weges bestand darin, dass ich dort wo sich die Tourist Info befindet, in den Ort kam. Da wollte ich in Erfahrung bringen, ob es in den Ortschaften auf dem Weg, die ich heute noch erreichen könnte, eine Unterkunft gebe. Im Internet hatte ich nichts finden können. Die Antwort war nein. Der Wanderweg führt von Altenberg durch eine der typischen Zwischenregionen. Das Erzgebirge liegt hinter mir und die sächsische Schweiz fängt noch nicht so richtig an. In solchen Gegenden übernachten anscheinend keine Feriengäste. Mir blieb nichts anderes übrig als nur zum nächsten Ort namens Geising zu laufen und im Gasthof ein Zimmer zu nehmen.
Vor lauter Übermut habe ich noch einen Umweg über den Geisingberg eingelegt, auch immerhin ein 800er, mit einem Louisenturm und einer Tafel, die bezeugt, dass Alexander von Humboldt hierselbst im Jahr 1828 Höhenmessungen durchgeführt hat. Außerdem gibt es eine nette Baude, mit einem Kachelofen, der den Raum sehr gut heizt. Die anderen drei Gäste unterhielten sich über Lehrlinge, die heutzutage Auzubildende heißen und nicht mehr in der Lage sind, eine Lehre abzuschließen und über sündhaft teure Autos, die trotz des Preises sofort kaputt gehen. Klagen, die man wahrscheinlich überall in Deutschland hören kann.
Ich habe keine Lust verspürt, die drei Leute in ein Gespräch über das GG zu verwickeln. Meine kommunikativen Fähigkeiten haben diesbezüglich enge Grenzen. Später, als ich wieder auf dem Weg war, fiel mir eine Reaktion ein. "Das kaputte Auto ist eine Strafe der Götter", hätte ich sagen können, "dafür, 68000 Euro für ein Auto ausgegeben zu haben. Was hätte man mit dem Geld nicht alles an sinnvollen und hilfreichen Dingen machen können?" Sicher bin ich mir aber nicht, ob ich damit ein anregendes Gespräch initiiert hätte.
A propos Götter. Mir ist heute ein interessanter Unterschied zwischen dem Erzgebirge und anderen Mittelgebirgen, die ich kenne, aufgefallen. Hier gibt es keine Kreuze, keine kleinen Kapellen, keine religiösen Wegmarken. Die Säkularisierung ist in dieser Hinsicht sehr weit gekommen. Immerhin steht in Geising, dem Ort, in den ich danach gegangen bin, ein Reformationsstein, der 1917 zum 400. Jahrestag der Thesenanschläge Luthers eingeweiht wurde.
Das war mitten im 1. Weltkrieg, aber eine Friedensbotschaft findet sich auf dem Stein nicht. Stattdessen soll das eingemeißelte Lutherwappen an seine Losung erinnern: Das Christenherz auf Rosen geht, wenn´s mitten unterm Kreuze steht.
Das hört sich in dem Zusammenhang der historischen Situation eher wie eine Durchhalteparole an.
Die Glaubensfreiheit wird im GG gleich an mehreren Stellen garantiert, so in Art. 3 und in Art. 4. Die Freiheit des Glaubens ist unverletzlich und niemand darf wegen seines Glaubens benachteiligt oder bevorzugt werden. In Art. 7 GG gibt es noch den Absatz, in dem den Erziehungsberechtigten das Recht zugestanden wird, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. Ein kleines aber nicht unwichtiges Grundrecht!

Die Kälte heute hat die Auseinandersetzung mit dem GG schwierig gemacht. Die meiste Energie ging in das Weiterwandern und in das Hoffen auf was warmes zwischendurch.
Eine warme Suppe habe ich dann in einem sehr merkwürdigen Wirtshaus in Altenberg gegessen, das es mit der Heimatliebe nicht nur übertreibt, sogar auf eigens angefertigten Plakaten an der Hauswand Politikerbeschimpfung betreibt. Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass ich die Plakate erst nach der Suppe gesehen habe.
Artikel 5 GG: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten.
Die eher unappetitlichen Äußerungen an dieser Hauswand werden von der Meinungsfreiheit noch gedeckt. Da ist von Idioten die Rede, die uns regieren und davon, dass Grüne und Sozialdemokraten "immer" irren, ein Vorwurf, der angesichts von 30000 Hektar Wald, der hier durch Luftverschmutzung zerstört worden sind, von einem ideologisch beschränkten Weltbild zeugt. Soweit mein Ausflug in die tagespolitische Sphäre.
Ich bin dann schnell weiter, wie gesagt erst auf den Geisingberg und dann in den Ort Geising, der einen sympathischen Eindruck bei mir gemacht hat. Untergekommen bin ich im Gasthof Ratskeller, wieder einer der eher einfachen und wenig modernen Häuser, die ich auf der GG-Wanderung bevorzuge.

Fundstücke:

unbeabsichtigte Kunst im öffentlichen Raum 1+2
















beabsichtigte Kunst im öffentlichen Raum 1+2


Donnerstag, 11. April 2019

Der 50. Tag: 11. April 2019

Seiffen - Teichhaus - Neuhermsdorf

Am Morgen bin ich mit der inneren Sorge losgewandert, heute womöglich keinen Ort für eine Rezitation zu finden. Der Blick auf die Wanderkarte ließ erwarten, dass ich keine größeren Ortschaften passieren würde. Die einzige markante Stelle schien ein Stausee zu sein, den ich nach ca. zwei Stunden Wanderung erreichen würde.
Genau so kam es.
Wieder um kurz vor 9.00h bin ich losgestiefelt, diesmal mit Handschuhen, denn es hatte gefroren über Nacht.
Im ersten Teil führte der Weg auf gut 800 Metern über einen Höhenzug des Erzgebirges, an dem das Waldsterben in den siebziger und achtziger Jahren besonders schlimm war. Eine der leichten Erhöhungen, die hier Hübel (=Hügel) heißen, ist seit einiger Zeit nach dem Förster Kluge benannt, der bis 1990 für die Gegend zuständig war. Nebenbei fragt man sich bei dieser Jahreszahl sofort, aus welchem Grund er nach der Wiedervereinigung nicht mehr zuständig war. Er hat sich jedenfalls mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die endgültige Zerstörung des Waldes gestemmt. Die Ursache für das Waldsterben auf der fast unglaublichen Zahl von 30000 ha war die Schwerindustrie auf tschechischer und deutscher Seite, deren Abgase ungefiltern die Luft auf beiden Seiten verpestete. Förster Kluge pflanzte mit tatkräftiger Unterstützung der einheimischen Bevölkerung, die am Wochenende mitmachte, verschiedene Baumarten, von denen er annahm, dass sie zumindest als Übergangsgewächse besser gegen den Rauch gewappnet seien als der Fichtenhochwald. Buchen gibt es im Erzgebirge eh viele, dazu kamen jetzt Lerchen, Birken, Douglasien usw. Das Ergebnis ist heute noch zu sehen. Die Erzgebirgler scheinen das Andenken ihrer Förster bewusst in Ehren zu halten. Gestern kam ich an einem Gedenkstein für einen Förster des 19. Jahrhunderts vorbei, der schon damals für den gefährdeten Buchenbestand kämpfte.
Heute hat der Wald noch andere Probleme. Hier haben Schnee und Sturm im Winter gewütet und es sieht teilweise ganz schön wild aus.

Ein Grundrecht auf saubere Umwelt gibt es im GG nicht. Erst mit Art. 20a, der nicht mehr zu den Grundrechten zählt, ist nachträglich ein Recht auf intakte Lebensgrundlagen eingeführt worden. Doch dieses Recht kann anders als die Grundrechte in Art. 1 bis 19 nicht gerichtlich eingeklagt werden. Dann sähe die ökologische Situation in Deutschland wohl anders aus.



Übrigens kann Art. 20, den ich ja in meine Rezitationen integriere und in dem die Staatsform der Bundesrepublik eben als demokratische und soziale Republik festgeschrieben ist, ebenso wie die Grundrechte nicht per Mehrheitsbeschluss des Bundestages und auch auf sonst keinem Weg verändert werden. Das ist eine wichtige Lehre aus Weimar. Ein Ermächtigungsgesetz, wie jenes, das Hitler ganz legal den Weg in die Diktatur ebnete, wäre heute unmöglich, weil es gegen das GG verstoßen würde.

In Ermangelung äußerer Anregungen für eine Rezitation habe ich auf dem ersten Teilstück der Wanderung die Grundrechte mal wieder vor mich hin rezitiert. Aufgefallen ist mir diesmal, dass der Begriff der Gemeinschaft in den Grundrechten zweimal vorkommt. Vor ein paar Tagen hatte ich schon einige Überlegungen zum Thema Gemeinschaft versus Gesellschaft, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland eine große Rolle spielte, notiert. Jetzt habe ich bemerkt, dass das Wort Gemeinschaft im Grundrechtsartikel 6 gleich zweimal verwendet wird. Art. 6 behandelt die Grundrechte in Ehe und Familie. Dass gerade dort von Gemeinschaft die Rede ist, passt sehr gut zu der erwähnten Debatte vor hundert Jahren.
Ehe und Familie stellen soziale Vereinigungen dar, die nicht auf Gesellschaftsverträgen zur Absicherung und Wahrung gegenseitiger Interessen basieren, sondern sie kommen auf andere Weise zustande. Man sagt zwar, die Familie sei die Keimzelle der Gesellschaft, aber wie auch immer man zu dieser Idee steht, die Familie selbst ist keine gesellschaftliche Struktur, denn sie basiert nicht auf Verträgen, sondern auf Liebe und auf natürlichen Beziehungen - etwa zu den Kindern. Spielarten dieser Grundstruktur lasse ich hier außer Acht.
Diese im weiten Sinn "organischen" Strukturen der Familie sind ein Charakteristikum, das nach Ansicht der entsprechenden Apologeten jeder Gemeinschaft zukommt. Das ist ein komplexes Thema. Mich interessiert hier nur, wie das Wort Gemeinschaft in diesem Zusammenhang in Artikel 6 GG verwendet wird.
In Absatz 2 wird betont, dass "Pflege und Erziehung der Kinder (..) das natürliche Recht der Eltern" und zugleich deren Pflicht seien. Und dann heißt es: "Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft".
Was soll das sein, eine staatliche Gemeinschaft? Wer oder was vergemeinschaftet sich da? Warum steht da nicht einfach: ...wacht der Staat?
In Absatz 4 taucht die Gemeinschaft nochmal auf: "Jede Mutter hat Anspruch auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft". Über die Frage, warum Väter diesen Anspruch nicht besitzen und was eigentlich mit den Kinderrechten ist, habe ich schon an anderer Stelle was gesagt. Doch welche Gemeinschaft ist hier gemeint, die Schutz und Fürsorge gewähren soll? Die staatliche Gemeinschaft? Die Nachbarschaft, sofern sie eine Gemeinschaft bildet? Die kommunalen Behörden?
Ich schreibe diese Fragen im übrigen nicht auf, um den Artikel oder das GG zu kritisieren. Ich glaube, es ist eine Stärke der Grundrechte, dass sie nicht wasserdicht formuliert sind und stattdessen einen gewissen Spielraum anbieten, um die Grundrechte sachte an die sich wandelnden gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Umstände anzugleichen.

Am frühen Mittag bin ich an der Rauschenbach -Talsperre angekommen und habe dort die
1. Rezitation des Tages um 11.30 h (1x)
gemacht, die auch die einzige bleiben sollte.


 (schwarz rot gold)


Die Rezitation fand in einem kleinen Bushäuschen statt, weil ich darin von dem immer noch ziemlich kalten Wind einigermaßen geschützt war. Und Zuhörerende waren eh nicht zu erwarten.
Es gibt keine Notwendigkeit, die Rezitation an diesem speziellen Ort eigens zu begründen, aber wenn man eine Verbindung zwischen Talsperre und GG finden möchte, hätte ich folgenden Vorschlag:  Die Talsperre dient der Trinkwasserversorgung und damit der Gewährung und Sicherung eines Grundbedürfnisses der Menschen. Grundbedürfnisse sind gewissermaßen die älteren Geschwister der Grundrechte. Das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 GG bedeutet auch, dass die Menschen im Geltungsbereich des GG keine Sorgen um die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse haben müssen.


Von der Talsperre aus ging der Weg weiter an der deutsch-tschechischen Grenze entlang durch den Wald. Das letzte Stück des heutigen Weges verlief dann auf einer ehemaligen Bahntrasse zu einem Bahnhof in Neuhermsdorf, in dem heute ein Hotel betrieben wird, wo ich für die Nacht untergekommen bin. Das ist eines der Hotels, wie ich sie auf der GG-Wanderung besonders schätzen gelernt habe, weil es noch nicht, wie modernere Bauten, durch und durchfunktionalisiert ist. Die Zimmer strahlen noch nicht aus, dass jeder Quadratmeter einem durchdachten Konzept folgt. Das bedeutet nicht zuletzt, dass die Zimmer meistens größer sind als sie unbedingt sein müssten. Großzügigkeit statt Funktionalität. Im Jubiläumsjahr von Bauhaus vielleicht nicht die Losung des Tages....

Fundstücke:

Straßenschildkreativität
                                                            Tassenzaun

Mittwoch, 10. April 2019

Der 49. Tag: 10. April 2019

Zöblitz - Ansprung - Olbershau - Seiffen

Meine Bemerkung von gestern mit dem Winter, der im Erzgebirge noch nicht zu Ende ist, hat sich heute Morgen bestätigt. Als ich um kurz vor 9.00 h aus dem Hotel trat, war es ganz schön kalt. Ich war froh meine Merino-Unterwäsche und die neue Merinojacke, die ich mir zum Glück vor Beginn dieser Etappe zugelegt habe, zu tragen.
Die Wanderung führte mich zuerst nach Ansprung, einem Dorf, das offenkundig nicht auf den Tourismus als Einnahmequelle setzt und dadurch bei mir einen irgendwie ehrlichen Eindruck hinterlassen hat. Außerdem sieht das Dorf in meinen Augen ganz ähnlich aus wie Ortschaften, die ich aus der Eifel kenne. Sehr groß scheinen die Unterschiede auf dem Land zwischen Ost und West nicht zu sein.
Ein Unterschied besteht allerdings in Ausmaß und Masse der österlichen Dekoration, die man hier in den Vorgärten und Fenstern findet. Praktisch an jedem Strauch hängen Unmengen von farbigen Ostereiern an Fäden und es gibt ganze Rudel von geschnitzten Hasen. Das sind Hinweise auf die erzgebirgische Volkskunst, auf die ich später noch einmal zu sprechen komme.
Das Überraschendste an Ansprung war aber eine unscheinbare metallene Plakette, die an einer ziemlich großen und viel befahrenen Kreuzung an einer Hauswand hängt. Damit wird eines "Todesmarsches der KZ - Häftlinge der Lager Neu - Stassfurt gedacht".


Der größte Teil des Textes auf der Tafel ist auf französisch, denn auf diesem Todesmarsch wurden offensichtlich die französischen Häftlinge von der SS ermordet - kurz vor Ende des Krieges im April/Mai 1945.
Das KZ Neu - Stassfurt war eine Außenstelle des KZ Buchenwald, in dem vorwiegend französische Gefangene Flugzeugteile produzierten. Da hing diese Tafel.

Ein merkwürdiger Moment. Rundherum rauscht (mehr oder weniger) der Verkehr und ich stehe mitten im Erzgebirge vor einer größtenteils auf französisch verfassten Gedenkplakette.












Grund genug, dort die
1. Rezitation des Tages um 9.50 h (1x)
zu machen, während der die Autos natürlich weiter fuhren und mich nur der ein oder andere Blick eines Fahrers oder einer Fahrerin traf, die sich wohl fragten, was ich da mache.



Dann ging es weiter durch Wald und Flur, wobei heute wie in den vergangenen Tagen auffällig viele umgestürzte Bäume über dem Weg lagen, die durch Sturm und Schneebruch umgefallen und abgebrochen sind, wie ich später erfuhr.
In Olbernhau angekommen bin ich zuerst zum Tourist Office, um mir eine Wanderkarte für das Osterzgebirge zu besorgen, in das ich morgen plane einzutreten. Dann bin ich eine Weile durch den Ort geirrt, auf der Suche nach einem Platz für eine Rezitation. Gefunden habe ich ihn vor einer 200jährigen Eiche, die im Jahr 1818 von den Einwohnern Olbernhaus zum 50. Jahrestag der Regentschaft von König Friedrich August I, "dem Gerechten" gepflanzt wurde. Friedrich August war seit 1763 (als 13jähriger) Kurfürst und ab 1806 König von Sachsen. Wieso im Jahr 1818 das 50jahrige Jubiläum gefeiert wurde, habe ich nicht herausfinden können. 

Bemerkenswert ist für unser Thema und die Auseinandersetzung mit dem GG, dass die Bürger von Olbernhau zu jener Zeit dem Regenten die Gerechtigkeit wie einen Charakterzug zusprachen. Zu der Zeit war die französische Revolution schon fast 30 Jahre alt und die Idee, Gerechtigkeit als ein Recht zu verstehen, das den Bürgern juristisch und politisch so gut es geht zugesichert werden sollte, war schon in der Welt. Friedrich August hat zeitweise in den Napoleonischen Kriegen sogar auf Seiten der Franzosen gekämpft. Die Zeiten, in der Regenten als gerecht oder ungerecht bezeichnet wurden, neigte sich jedenfalls schon dem Ende zu und die Regentschaft des Rechts in Form von Gesetzen, die für jeden gelten, setzte sich allmählich durch, wenn auch nicht immer und überall, so doch als eine prototypische Regierungsform, an der alle Regenten und Regierungen gemessen werden.




Vor diesem 200 Jahre alten Baum habe ich
um 12.10 Uhr eine Rezitation (1x) gemacht,
ohne auf nennenswerte Resonanz zu stoßen. 



Danach ging es weiter nach Seiffen, noch ein paar Mal die Berge hoch und runter. Dort eingetroffen war ich zunächst erstaunt, wie ruhig der Ort wirkt. Anders als in Zöblitz und Olbernhau gibt es in Seiffen keinen starken Durchgangsverkehr - oder lag es an der Tageszeit?

Mit war schon vorher aufgefallen, dass die Erzgebirgler einen Hang zur Dekoration besitzen. Seiffen scheint das Epizentrum dieser Tendenz zu sein. Praktisch jede Luke und jedes Fenster stehen voll mit Schwibbögen, kreisenden Pyramiden und geschnitzen oder gedrechselten Holzfiguren in den verschiedensten Deko-kompatiblen Formen. Die kleine Stadt quillt geradezu über mit Holzspielzeug, Osterdekoration und Nußknackern. Das hat mich überfordert, obwohl hier im Prinzip ja nur Art. 2 GG, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, mit Verve, Ausdauer und Können in die Tat umgesetzt wird. Außerdem sagt doch Art. 5, dass Kunst (inklusive Kunsthandwerk und "Volkskunst" muss man hier hinzufügen!) frei ist, auch frei Kitsch zu produzieren - übrigens ein Begriff der nicht viel älter ist als der Jubiläumsbaum in Olbernhau.
Ich habe mir die Freiheit genommen, noch zwei Kilometer weiter zu wandern und in einem Hotel auf der Anhöhe Unterkunft zu suchen. Hier stehen zwar auch Schwibbögen in den Fenstern, aber ansonsten sieht man aus den selbigen blickend die Hügel des Erzgebirges, nur mit dem Licht der untergehenden Sonne dekoriert.

Fundstücke:
                                                      Für das Erzgebirge eher untypische Tierfiguren



















Für das Erzgebirge eher typische Tierfiguren

Dienstag, 9. April 2019

Der 48. Tag: 9. April 2019

Satzung - Kühnhaide - Zöplitz

Landschaftlich war die Wanderung heute ein echter Höhepunkt. Vom Gasthof in Satzung bin ich kurz vor 9.00 h losgegangen und war schon eine viertel Stunde später auf dem Hirtstein, der höchsten Erhebung, die ich auf dieser April-Etappe wohl beschreiten werde. Aus alter Gewohnheit habe ich dort eine Gipfelrezitation gemacht.
Die erste Rezitation des Tages fand um 9.15 h statt (1x).

Dann ging es an den Abstieg auf der anderen Seite des Hirtsteins und bald danach durch ein weites Tal, in dem ein kleiner Fluss mäandert. Später führte der Weg durch ein ziemlich ausgedehntes Moor mit Fichten- und Kieferwäldern, Birkenhainen und offenen Moorflächen. Da hier im Erzgebirge der Winter noch nicht ganz zu Ende ist und ich noch an einigen Schneefeldern vorbei komme, gab es im Moor überhaupt keine Insekten. Ein Moor ohne Mücken ist gleich noch viel pittoresker.

 

Hinter Kühnhaide habe ich mich entschieden, vom WDE abzubiegen, denn die einzige erreichbare Unterkunft auf dem Weg war telefonisch nicht zu erreichen und mir war das Risiko zu groß, vor einem geschlossenen Gasthof zu stehen und dann stundenlang weiter laufen zu müssen. Da bin ich von der letzten Etappe im Spätsommer ein gebranntes Kind. Der Weg Richtung Pobershau ging über weite Strecken neben dem so genannten Grünen Graben entlang. Das ist ein kleiner Wasserkanal, der  durch den Wald führt. Mittlerweile habe ich erfahren, dass dieser Kanal schon im späten 17. Jahrhundert gebaut wurde und im Bergbau dazu diente, Wasser in einige Gruben zu bringen, wo es für den Antrieb von Wasserrädern und Pumpen benötigt wurde. Man spricht dann von Aufschlagwasser.

Der Grüne Graben ist acht Kilometer lang, die ich mehr oder weniger ganz abgelaufen bin - mit steigender Bewunderung für dieses heute sehr poetisch wirkende Bauwerk.
Bei allen landschaftlichen Besonderheiten auf der Wanderung gab es dennoch keine Orte oder Plätze, von denen ich mich für eine weitere Rezitation eingeladen gefühlt hätte. Deshalb habe ich die im letzten Jahr entstandene Gewohnheit wieder aufgenommen und ab und zu während des Gehens die Grundrechte rezitiert. Hängen geblieben bin ich an Artikel 15, zu dem ich gestern schon etwas notiert habe. Es bleibt bemerkenswert, dass dieser Artikel noch nie aktiv zum Einsatz kam in den 70 Jahren Geschichte des GG. Doch noch eine andere Sache hebt Artikel 15 aus den Grundrechten heraus. Alle anderen Grundrechte des GG beziehen sich entweder auf alle Menschen, auf alle Deutschen oder eine spezifische Bevölkerungsgruppe. Doch mit dem Recht auf Enteignung oder Verstaatlichung in Art.15 hat sich der Staat ein eigenes Grundrecht gesichert. Da könnte man die Frage stellen, ob der Staat überhaupt Grundrechte für sich beanspruchen darf. Das Recht auf Enteignung und Verstaatlichung ist dazu in Art. 15 nicht einmal an klare Bedingungen geknüpft, die eine Vergesellschaftung geboten erscheinen lassen. Nur die Vergesellschaftung als möglicher Zweck wird genannt.
Zugleich steckt in diesem Artikel 15 das Potenzial, auf dem Boden des GG eine viel weniger auf Privatwirtschaft basierende ökonomische Ordnung zu installieren. Wenn die politischen Mehrheiten es hergäben, könnte man zur Sicherung der Grundbedürfnisse der Menschen in Deutschland ein paar Industrien und Unternehmen vergesellschaften, die gegen die sichere Gewährung dieser Grundbedürfnisse agieren. Das Recht auf Wohnen wird verletzt, wenn die Wohnungsgesellschaften nur noch auf Rendite aus sind, statt primär ihren Mietern guten und bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Andere Beispiele wären die Wasserwirtschaft, die ja gerade droht, in private, und das heißt renditeorientierte Hände zu fallen, oder etwa die Energiewirtschaft.
Wenn "der Markt" es nicht richtet, wie es zur Zeit viel zu oft der Fall ist, eröffnet das GG sehr wohl die Option, es anders zu probieren. Aber es wundert mich nicht, dass dieser Art. 15 GG seit seiner Formulierung so vor sich hinschlummert.

Am Schluss wurde die Wanderung mal wieder länger als ich gehofft hatte, weil ich nicht richtig beurteilen konnte, wo ich am besten übernachte, um am nächsten Tag eine gute Ausgangslage für die dann anstehende Wanderung zu haben. Zuguterletzt bin ich - mit einer kleinen Klettereinlage - in Zöblitz gelandet. Das ist ziemlich weit weg vom WDE, aber von hier aus müsste ich gut nach Olbernhau kommen, wo ich wieder auf meinen Wanderweg stoßen sollte.
Zöblitz zeichnet sich durch zwei Dinge aus, einmal durch eine Silbermann-Orgel in der Kirche, die ich aber weder sehen noch hören konnte, und durch den so genannten Serpentin-Stein, der hier im Erdreich liegt und anscheinend noch immer abgebaut wird. Der Stein, den man an verschiedenen Stellen im Dorf sehen kann, erinnert mich an einen sehr glatten und dunklen Marmor. Sehr schön.

Doch es war ein anderer Stein, der mich veranlasste, eine Rezitation zu machen. Ganz unscheinbar neben einer Sitzbank steht dieser kleine Stein mit der Aufschrift:
Friede. 10. Mai 1871.
Nichts von siegreich, Helden oder Vaterland - nein einfach Friede. Das finde ich sehr sympathisch und so habe ich die
2. Rezitation um 15.50 h (1x) auf dem Zöblitzer zentralen Platz neben der Stadtbibliothek gemacht.
 

Resonanz gab es keine, aber trotzdem finde ich, dass die Menschen hier in der Gegend sehr freundlich sind. Viel grüßen mich, einige mit dem regionalen "Glück auf!"
Mit einer gewissen notwendigen Überzeugungsarbeit ist es mir gelungen, im Hotel des Orts ein Zimmer zu bekommen. Hier war an dem Tag ebenfalls (wie gestern) eine große Abendveranstaltung und niemand schien darauf vorbereitet zu sein, einen Gast über Nacht zu beherbergen. Aber dann ging alles gut.
Die Abendveranstaltung bestand in einem Besuch von Trainern und einigen Spielern von Erzgebirge Aue, einer Fußballmannschaft, die in der 2. Liga spielt. Sie haben sich den Fragen der Fans gestellt. Was man alles erleben kann....

Fundstücke:

 Steinfächer  (am Hirtstein)
 Dekoration im öffentlichen Raum 1-3:



Montag, 8. April 2019

Der 47. Tag: 8. April 2019

Jöhstadt - Schmalzgrube - Satzung

Beim Auschecken heute Morgen aus dem Hotel in Jöhstadt habe ich dem Gastwirt eine Karte von der GG-Wanderung in die Hand gedrückt, mit der er offensichtlich nichts anzufangen wusste. Ich habe ihn dann nach der niederländischen Verfassung gefragt, doch er hat mir keine Antwort geben können. Das bringt mich nochmal zurück zum Thema des Abstandes, das ich gestern aufgebracht habe. Die moderne Gesellschaft erlaubt es auch, dass man sich als Bürgerin oder Bürger überhaupt nicht darum kümmert, auf welchen politischen und rechtlichen Grundlagen das Gemeinwesen steht. Auch wenn ich eine solche Einstellung nur schwer nachvollziehen kann.


Auf dem regionstypisch großen und größtenteils begrünten Marktplatz von Jöhstadt steht ein mächtiger, ebenfalls für die Gegend typischer Schwibbogen aus Holz und Metall, vor dem ich mich für die erste und einzige Rezitation des Tages aufgebaut habe.
Sie fand statt um 9.30 Uhr (2x).
Obwohl relativ viele Leute um mich herum unterwegs waren, hat sich mir während der Rezitation niemand genähert. Anders als ich es vormals erlebt habe, hatte ich nicht den Eindruck, die Leute machen einen großen Bogen um mich, sondern eher, dass sie einfach nicht kümmert, was ich da tue oder wer ich bin.
Ohne Resonanz auf meine Aktion bin ich nach vollzogener Rezitation losgewandert. Der erste Teil des Weges führe entlang einer Schmalspurbahn durch ein bewaldetes Tal mit ein paar imposanten Felsformationen, von denen eine merkwürdigerweise Loreleyfelsen heißt. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten...
In Schmalzgrube biegt der WDE von der Eisenbahntrasse ab und führt auf die Höhe in Richtung Hirtstein, den ich morgen erklimmen werde. Ich bin zwar in die selbe Richtung, dann aber nach Satzung gewandert und dort im Gasthof "Erbgericht" abgestiegen. Ein Landgasthof der ganz alten Schule, in dem am Nachmittag ein Frühlingsfest stattfand. Mein Zimmer grenzte direkt an den ziemlich großen Veranstaltungssaal, aus dem ab dem Nachmittag erzgebirgische Volksmusik erschallte. Jedenfalls zunächst. Später wurde es dann das deutschlandübliche Heino-Repertoire inklusive "Schöner Westerwald" - im Erzgebirge! Die GG-Wanderung lässt mich in Lebenswelten eintauchen, zu denen ich sonst gebührenden Sicherheitsabstand halte.

                                                          Die herzhafte Seite des Frühlingsfests


Beim Mittagessen habe ich einen Blick in die Tageszeitung "Freie Presse" geworfen. In einem Artikel über die Demonstrationen in Berlin und anderen Städten gegen die horrenden Mietpreise ging es an einer Stelle um das GG. Eine Berliner Initiative will über ein Volksbegehren die Enteignung besonders unsozialer Immobilienfirmen in die Wege leiten. Der bayrische Innenminister Herrmann meint, mit solchen Forderungen "würden 70 Jahre nach der Verkündung unseres Grundgesetzes die elementaren Regeln unserer Marktwirtschaft in Frage gestellt". Das ist eine interessante Argumentation, weil die soziale Marktwirtschaft gar nicht direkt im Grundgesetz festgeschrieben ist. Zwar gibt es das Recht auf Eigentum und die Aufforderung, mit dem Eigentum zum Wohle der Allgemeinheit zu agieren (Artikel 14 GG), aber das lässt verschiedene wirtschaftliche System zu. Die Initiatoren des Volksbegehrens für die Enteignung argumentieren mit Art. 15 GG: "Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung, durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden".
In dem Zeitungsartikel wird darauf hingewiesen, dass Art. 15 Verfassungsrechtlern zufolge noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik angewendet wurde. Das ist kein Grund, es in diesem Fall nicht das erste Mal zu tun, doch darüber hinaus zeigt sich daran, dass das Grundgesetz wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet und erlaubt, die bislang ungenutzt geblieben sind. Ich komme später nochmal darauf zurück.
Als ich so lesend beim Mittagstisch saß, kam an der Theke ein Anruf, offenbar mit der Frage nach einem Erbschein. "Wir sind das Gasthaus Erbgericht, nicht das Gericht. Nein, mit Erbscheinen haben wir nichts zu tun." Dann zu mir: "Einmal im Monat ungefähr kommt so ein Anruf, aber erst seit drei oder vier Jahren. Vorher zwanzig Jahre nie." Woran das wohl liegt?

Fundstücke:
                        
     Schaufenster - Wimmelbild

 Baumschutz?
              Horch und Guck an der tschechischen Grenze

Sonntag, 7. April 2019

Der 46. Tag: 7. April 2019, Anreise

Köln - Jöhstadt

Bei sechs Umstiegen auf der Reise vom Rhein ins Erzgebirge war die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwo eine Verspätung geben würde und ich einen Anschlusszug verpasse, nicht gering. Damit verbunden war die Gefahr, heute gar nicht an meinem Ziel anzukommen, denn es gab überhaupt nur eine Verbindung, die die Strecke mit Bahn und Bus an einem Tag machen kann. Ich habe es mit zwei Stunden Verspätung und unter Zuhilfenahme eines Taxis geschafft und bin in Jöhstadt angekommen.
Der Anfang der Reise verlief reibungslos und irgendwann am späten Mittag saß ich im (vierten) Zug von Erfurt nach Leipzig und formulierte in Gedanken die ersten Sätze für dieses Tagebuch. Darin wollte ich von der Ereignislosigkeit der Fahrt berichten und einen positiven Aspekt - die Pünktlichkeit der Züge - von einem weniger positiven unterscheiden, der darin bestand, dass ich bis dahin mit niemandem ins Gespräch gekommen bin. Einen Grund für die Kontaktlosigkeit vermute ich in der Tatsache, dass ich 1. Klasse gefahren bin. Ich hatte mir aus dem Bahn-Bonus-Konto ein Upgrade geleistet, wegen langer Fahrt, Beinfreiheit usw. Jetzt stellte ich fest, dass die Fahrgäste in der 1. Klasse nicht nur körperlich, sondern auch kommunikativ mehr auf Abstand bleiben als in der 2. Klasse.
So in Gedanken versunken brachte mich der Begriff Abstand auf einen Aufsatz des Soziologen und Anthropologen Hellmuth Plessner, den ich vor kurzem gelesen habe. Der Text ist in einer ersten Fassung in den zwanziger Jahren erschienen und er stellt Plessners Beitrag zu einer Debatte dar, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland sehr kontrovers geführt wurde. Darin ging es um den Unterschied zwischen den Lebensformen der Gemeinschaft und der Gesellschaft. Die Kritiker der kapitalistischen Moderne sahen in der Gemeinschaft ein traditionelles Modell des Zusammenlebens, in dem Menschen sich zugehörig fühlen konnten, statt sich, wie in der Gesellschaft, die von Kampf und Konkurrenz geprägt ist, in der Vereinzelung zu verlieren. Deshalb, so die Kritiker, ginge es darum, moderne Formen von Gemeinschaft zu entwerfen. Der Gemeinschaftsbegriff wurde von links wie von rechts verwendet und der Gesellschaft gegenüber gestellt. Die Volksgemeinschaft der Nazis war eine späte pervertierte Version dieses Denkens, in dem es eigentlich wichtige Anregungen gegeben hat.
Plessner war einer der wenigen Denker, der die Vorzüge der Gesellschaft herausstellte und dazu gehörte ganz vorne die Möglichkeit bzw. die Erlaubnis, zu Menschen, Gruppen und der ganzen Gesellschaft auf Abstand zu gehen. Im gesellschaftlichen Leben muss niemand um jeden Preis und in jeder Hinsicht dazugehören. Dieses Recht auf Abstand gehört zu den großen Freiheiten, die in der Moderne erkämpft worden sind.
Das Recht auf Abstand ist im Grundgesetz nicht eigens als Grundrecht aufgeführt, aber es schimmert durch einige Grundrechte hindurch, etwa durch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Art. 2 und dem Recht auf Meinungsfreiheit in Artikel 5: Ich habe nämlich das Recht "Nein" zu sagen, die grundlegende Form der Abstandnahme.
Während ich so mit meinen Gedanken beschäftigt war, blieb der Zug plötzlich auf freier Strecke stehen und meine innere Rede von der Ereignislosigkeit sollte sich in beiden Hinsichten als voreilig heraus stellen.


Wanderstock und Jacke im Wartestand.

Mit zwei Stunden Verspätung stieg ich in Leipzig in den Zug nach Chemnitz und in das Sechserabteil setzte sich außer mir eine Dame, mit der ich ein zeitweise sehr bewegendes Gespräch führte. Mit der Wahl des Wortes Dame will ich andeuten, dass sie eine ganz und gar bürgerliche Grundaustattung trug ohne Verweise auf eine alternative oder intellektuelle Szene. Ins Gespräch gekommen sind wir über unsere individuellen Verspätungserfahrungen und ich erzählte ihr dann von der GG-Wanderung. Darüber kamen wir zuerst auf Chemnitz zu sprechen und auf die Vorfälle dort vom letzten Sommer. Sie war selbst bei einigen Demonstrationen gegen rechts, oder besser: für die rechtstaatliche Demokratie dabei. Auf ihrem Smartphone zeigte sie mir eine Photo von einem Transparent auf einer Chemnitzer Hochhauswand mit dem Satz: Die Würde des Menschen ist antastbar.
Das stimmt leider. Die Unantastbarkeit der Würde aus Art. 1 GG stellt einen Rechtsanspruch dar, ohne garantieren zu können, dass er immer eingelöst wird. Er sagt also nicht wie es ist, sondern wie es sein soll.
Meiner Gesprächspartnerin war ganz unverständlich, wie gerade ältere Leute den Rechten zujubeln können. Die wüssten doch aus eigener Erfahrung im Krieg und in der DDR, was ihnen ohne Rechtstaat droht. Dann erzählte sie mir ein paar Dinge aus ihrem Leben in der DDR. Sie stammte aus der Gegend von Leuna im Chemiedreieck, ist aber relativ früh nach Chemnitz gegangen und hat in einer Apotheke gearbeitet. Da gab es aber kaum Medikamente. Irgendwann fing man an, welche aus dem Westen zu importieren. Asthmamittel für die kranken Bergleute aus dem Erzgebirge, Medikamente zur Linderung der Schäden im Uranabbau der Wismut und der Chemieproduktion in Leuna/Bitterfeld, nicht zuletzt für die Kinder, die unter der schwer verseuchten Umwelt am stärksten zu leiden hatten usw. Doch die Mittel waren streng rationiert. Oft kam es vor, dass sie Kranke  abweisen musste, weil sie "nach Plan" eigentlich noch eine Woche versorgt sein müssten.
Als die davon erzählte, kamen ihr die Tränen. Das war ein bewegender Moment, der mir mehr als jede Statistik deutlich machte, was es heißen konnte in der realsozialistischen Mangelwirtschaft zu leben.
Situationen wie die in der Apotheke waren entwürdigend und widersprachen damit Art. 1 GG. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass strukturell ähnliche Dinge nicht auch in der Bundesrepublik passieren, besonders, seit auch im Gesundheitswesen die Dominanz des ökonomischen Denkens Einzug gehalten hat und Patienten wie Krankheiten in erster Linie als Kostenfaktoren betrachtet werden. Oder als zahlende Kunden!
Zur Geschichte meiner Gesprächspartnerin gehört auch, dass Sachsen schon vor 20 Jahren aus der Tarifbindung für Apothekenangestellte ausgetreten ist, wie sie zu berichten wusste, weil sie in der Gewerkschaft aktiv ist.
Am Schluss unserer gemeinsamen Fahrt haben wir noch über das Grundgesetz gesprochen und sie war mit mir einer Meinung, es wäre besser gewesen, nach der Vereinigung eine am GG ausgerichtete neue gesamtdeutsche Verfassung zu formulieren, statt dem Osten - hier wie in anderen Bereichen - einfach die westliche Version überzustülpen. Sie wusste nicht, dass das GG genau aus dem Grunde nicht Verfassung genannt wurde, weil es als Provisorium gedacht war, das im Falle der Wiedervereinigung einem gemeinsamen Verfassungsentwurf weichen sollte.
Am Bahnhof in Chemnitz haben wir uns verabschiedet und ich war dankbar für dieses erste Gespräch. Für mich ging es mit dem nächsten Zug weiter nach Annaberg-Buchholz und von dort mit dem Taxi - Busse fuhren keine mehr - nach Jöhstadt.
Mit dem Taxifahrer habe ich ein ganz anderes Gespräch geführt, von dem ich nur die Höhepunkte berichten will. Zitat:
"Man kann gegen den Erich ja viel sagen, aber der Winterdienst (auf den Straßen) funktionierte damals. (...) Auch wenn nichts anderes frei war, die Straßen waren damals frei!"
Aus Sicht eines Taxifahrers eine nachvollziehbare Logik....