english below!
Anlässlich des 71. Jahrestags des Inkrafttretens
des Grundgesetzes und genau ein Jahr nach Abschluss meiner Grundgesetzwanderung
in Görlitz habe ich am 23. Mai 2020 im stimmfeld-Studio in Köln eine
GG-Performance durchgeführt – in Anbetracht der Coronabeschränkungen ohne
Publikum. Tatsächlich war vor, während und nach der Performance außer mir
niemand im Raum. Die Performance folgte also radikal einem Wahlspruch des langsamen Hasen: Sei einsam – verbinde
dich.
Da könnte die Frage auftauchen,
warum ich die Performance überhaupt gemacht habe, wenn buchstäblich niemand
dabei war, um sie mitzuverfolgen. Darauf gibt es verschiedene Antworten:
1.
Ich habe während der GG-Wanderung genug Rezitationen
der Grundrechte ohne irgendeinen Zuhörer gemacht, um auch vor einer allein
durchlebten knapp dreistündigen Performance nicht mehr zurückzuschrecken.
2.
Ich war ja dabei! D.h. ich habe die Performance
erlebt und für mich war das eine sehr starke Erfahrung. (Gleich werde ich ein
paar Details dazu formulieren.)
3.
In der Performance Art gibt es eine Tradition von
Aktionen, die ohne Zuschauer durchgeführt wurden. Damit ist ja nicht zuletzt
die Frage gestellt, ob Kunst, um Kunst zu sein, das Publikum benötigt.
4.
In vielen Kulturen der Welt gibt es Rituale und
Zeremonien, die von einer Person durchgeführt werden, ohne dass notwendig
andere Menschen dabei sein müssen. Kulturimmanent gibt es dann keine Zweifel,
dass diese Rituale wichtig und wirksam sind. Eine ganz solistische
GG-Performance stellt in diesem Kontext die Frage, ob so etwas auch
künstlerisch herstellbar ist: eine rituelle Performance, die wirkt, ohne öffentlich zugänglich zu
sein. Von welchen Wirkungen ist da die Rede?
5.
Durch die mediale Vermittlung ist die Performance ja
in der Welt! Ich habe sie vorher auf FB und in meinem Newsletter angekündigt
und schreibe jetzt hier meine Gedanken im Nachhinein auf. Man kann sich also
mit der Performance indirekt verbinden und sie in die eigenen
Erfahrungskontexte einbetten.
Die GG-Performance ist wie ein
Ritual aufgebaut, bei dem ich in fünf Wiederholungen mit jeweils einem der
Grundrechte aus dem GG arbeite. Jede der fünf Phasen dauert ungefähr 35
Minuten, die ganze Performance demnach knapp drei Stunden.
Das ist eine lange Zeit, wenn man
ohne die Unterstützung eines Präsenz gebenden Publikums konzentriert sein will.
Mir ist das relativ gut gelungen. Es gab zwar einige Momente, bei denen ich
abgedriftet bin, aber das passiert mir mit Publikum auch ab und zu.
Jede Phase beginnt mit einer
Rezitation der Grundrechte - dieses Mal bei offenem Fenster, um darüber die
Verbindung zur Welt herzustellen. (Frischluftzufuhr
aus gesundheitlichen Gründen war ja nicht nötig – ich war das einzige atmende
Wesen im Raum, das Aerosole in die Luft abgegeben hat!)
Dann wende ich mich jeweils einem
der Grundrechte zu. Normalerweise fange ich mit Artikel 1 an (Die Würde des
Menschen ist unantastbar.) und überlasse es dem Zufall in Form von Karten,
welche anderen vier Artikel ins Spiel kommen. Dieses Mal habe ich mich
entschieden, während der Performance selbst eine Auswahl zu treffen und mich
mit den Artikeln zu befassen, die zur momentanen Diskussion um die Grundrechte
passen. Die Grundrechte sind bekanntlich wegen der Corona-Pandemie ziemlich
unter Druck und der Ausgleich zwischen den verschiedenen Grundrechten scheint
zur Zeit besonders schwierig zu sein. Dazu habe ich in früheren Blogbeiträgen
meinen Senf gegeben.
Der aktuelle politische Zusammenhang
hat die Auswahl der Artikel des GG mitbestimmt. Zugleich fand meine
Auseinandersetzung während der Performance sehr oft auf einer sehr persönlichen
Ebene statt. Das war vorher nicht geplant und hat mich überrascht.
Die Performance begann auch diesmal
mit Art. 1. GG. Ich schreibe den Artikel auf die Folien an der Wand, von denen
der Text nach einiger Zeit wieder verschwindet, diffundiert, sich auflöst
und/oder in die Gemäuer eindringt. Dann suche in einen Begriff, der einen
Aspekt des Artikels auf den Punkt bringt und den ich auf die Folie auf dem
Boden schreibe. Die Folie hänge ich mir danach über den Rücken, lasse dadurch
den Begriff in mich hinein wirken und mache damit eine freie Stimmaktion, die
mit Sanduhr gemessene 15 Minuten dauert.
1.
Phase: Die
Menschenwürde (Art.1). Ich habe mich an den Debattenbeitrag von Wolfgang
Schäuble erinnert, der vor einiger Zeit sagte, wenn es einen obersten Wert im
GG gibt, dann ist es die Menschenwürde. Menschen haben ein Recht auf würdiges
Leben und würdiges Sterben. Die
besondere, einsame Situation der Performance hat mich schon bei dem 1. Artikel
mit mir selbst konfrontiert und die Frage tauchte auf, was alles dazu gehört,
sich selbst die eigene Menschenwürde zuzugestehen. Gehe ich mit mir und mit
anderen auf eine Weise um, die mit meiner eigenen Würde im Einklang steht? So
gesehen scheint mir ein würdevolles Leben eine ziemlich große Herausforderung.
2.
Phase: Recht
auf Leben (Art.2). Schon in Artikel 2 wird das Recht auf Leben und auf
körperliche Unversehrtheit ausgedrückt. Das ist das Grundrecht, das in Zeiten
von Corona im Zentrum steht, weil dieses Grundrecht durch das Virus für große
Teile der Bevölkerung gefährdet ist.
Die gesamten Einschränkungen von Grundrechten, die
wir gerade erleben, beruhen auf der Überlegung, dass die Gefährdung von Leben
und Gesundheit für so viele Menschen dazu verpflichtet, dieses Grundrecht für
eine Zeit besonders zu schützen und dazu andere Grundrechte partiell zu
beschneiden – bis die akute Gefährdung durch Covid19 zu Ende ist. Ich halte
diese Argumentation für schlüssig und ich weiß, dass es dazu auch andere
Meinungen gibt.
Auf der persönlichen Ebene hat sich während dieser
Phase ein Gedanke eingeschlichen, der Energie
und Freiraum zu den beiden Faktoren
erklärte, die für das Leben notwendig sind. Um mein Recht auf Leben ausüben zu
können, benötige ich beides: Die Lebensenergie, die mich in Bewegung bringt und
den Freiraum, in dem ich mich dann bewegen kann. Stimmlich-körperlich kam es
dabei zu einem Wechselspiel von Einatmen ins untere DanTien im Unterbauch und
Tönen aus dem Herzraum.
3.
Phase: Versammlungsrecht
(Art. 8). Kein anderes Grundrecht ist während der Corona-Krise so sehr
eingeschränkt worden wie das Recht, sich „ohne Anmeldung und Erlaubnis,
friedlich und ohne Waffen zu versammeln“.
Das ist
nur schwer auszuhalten. Zumindest partiell wurde das Recht mithilfe der
digitalen Plattformen zur gemeinsamen Kommunikation aufrecht erhalten. Das ist
kein adäquater Ersatz, aber immerhin. Die viertelstündige Stimmaktion in dieser
Phase hat sich zu einer Versammlung der verschiedenen „Stimmen“, Stimmfarben
oder stimmlichen Anteile entwickelt. Jeder Atemzug ein neuer Gast.
4.
Phase: Freizügigkeit
(Art. 11) Auch dieser Artikel stand/steht schwer unter Druck.
Einschränkungen der Reisefreiheit gehören in Europa noch
nicht sehr lange der Vergangenheit an. Der eiserne Vorhang hing bis 1989 und
ich erinnere mich noch an nervige bis unverschämte Grenzkontrollen in
Luxemburg, auf meinen Trampreisen nach Paris. Die ökologischen Vorteile des Reisestopps
können nicht darüber hinwegtrösten, dass hier eine der fundamentalen und alles
andere als selbstverständlichen Freiheiten für viele Wochen ausgesetzt war.
Auf der stimmlich-persönlichen Ebene habe ich die Phase für eine Stimmreise
genutzt, bei der jeder neue Ton dort ansetzte, wo der vorherige aufhörte, um so
immer weiter zu wandern.
5.
Wesensgehalt (Art.19).
„In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“
Sind einige Grundrechte durch Corona in ihrem Wesensgehalt angetastet worden?
Wahrscheinlich wird die Diskussion darüber noch lange andauern. Entscheidend
für eine Antwort könnte sein, ob man hier einen zeitlichen Faktor erlaubt oder
nicht. Darf man ein Grundrecht zugunsten eines anderen Grundrechtes für einige
Zeit stark einschränken, ohne damit den Wesensgehalt anzutasten? Mit ja kann
diese Frage nur dann beantwortet werden, wenn die Einschränkungen so bald wie
irgend möglich wieder aufgehoben werden.
Stimmlich bin ich in der Phase beim Wesentlichen des
Atmens angelangt. Zum Wesensgehalt der Stimme gehört der Atem. Damit habe ich
mich für die viertel Stunde beschäftigt.
Die Performance war eine starke
Erfahrung und sie hat mich ganz schön viel Energie gekostet, wie sich mal
wieder erst im Nachhinein zeigte. Ich bin sehr froh, dass ich sie trotz oder
wegen der merkwürdigen Umstände gemacht habe und freue mich, bei den kommenden
Aktionen zum Grundgesetz wieder in den direkten Kontakt mit anderen zu kommen!
Z.B. am 31. Mai oder am 7. Juni,
wenn ich vor dem Bohde-Fenster in Köln Nippes, in dem in der Zeit meine
GG-Wanderung „ausgestellt“ sein wird, die Grundrechte des GG rezitiere –
jeweils um 15 Uhr.
Details
finden sich auf dem Blog des Bohde-Fensters.
(poor) english:
On the occasion of the 71st
anniversary of the German Constitution (Grundgesetz) and exactly one year after
the end of my Constitution walk (Grundgesetzwanderung) in Görlitz, I performed
a performance on 23 May 2020 at the stimmfeld studio in Cologne – because of
the Corona restrictions without an audience. In fact, before, during and after
the performance, there was nobody in the room but me. So the performance
radically followed a slogan of the slow
hare: be lonely - connect.
You maybe ask yourself why I did
the performance at all when literally no one was there to watch it. There are
different answers to this question:
1. During the GG-Walk I did enough
recitations of the fundamental rights
without any listener, so that I didn't even need to avoid a performance of
almost three hours being alone.
2. I was there at least! That means
I experienced the performance and for me it was a very strong experience. (I
will give some details about it below).
3. In Performance Art there is a
tradition of actions that were performed without an audience. This raises the
question whether art, in order to be art, needs the audience.
4) In many cultures of the world
there are rituals and ceremonies that are performed by one person without
necessarily having to have other people present. Culture-immanent there is then
no doubt that these rituals are important and effective. In this context, my solo
performance raises the question of whether something like this can also be
produced artistically: a ritual performance that works without being publicly
accessible. What does it mean then that it works?
5: Through the mediation of the
media, the performance is in the world! I announced it beforehand on FB and in
my newsletter and now I write down my thoughts here afterwards. So you can
indirectly connect with the performance and embed it in your own contexts of
experience.
The GG performance is structured
like a ritual, in which I work in five repetitions, each with one of the fundamental
rights from the Constitution/GG. Each of the five phases lasts about 35
minutes, so the whole performance lasts almost three hours.
That's a long time, if you want to
be concentrated without the support of an audience giving an atmosphere of presence.
I managed to do this relatively well though. There were a few moments when I
drifted off, but that happens to me with an audience from time to time, too.
Each phase begins with a recitation
of the fundamental rights - this time with an open window, in order to
establish a connection to the world. (Fresh air supply for health reasons was
not necessary - I was the only breathing being in the room that released
aerosols into the air!)
Then I turn in each phase to one of
the fundamental rights. Usually I start with Article 1 (The dignity of man is
inviolable.). Then I leave it to chance in the form of cards, which other four
articles come into play. This time I decided to make the decision during the
performance itself and to find the articles that fit the current discussion
about the fundamental rights. As you know, fundamental rights are under a lot
of pressure because of the Corona pandemic and the balance between the different
fundamental rights seems to be particularly difficult at the moment. I have
given my contribution to this in previous blog posts.
The current political context has
influenced the choice of articles in the GG. At the same time my examination
during the performance very often took place on a very personal level. This was
not planned in advance and surprised me.
The performance started again with
Art. 1 GG. I use to write the article on sheets on the wall, from which the
text disappears after some time, diffuses, dissolves and/or penetrates the
walls. Then I look for a word that brings an aspect of the article to the point
and I write this word on the sheet on the floor. I then hang the sheet over my
back, letting the term work its way into me and thus making a free vocal
action, which lasts 15 minutes measured with an hourglass.
Phase 1: Human dignity (Art.1). I remembered Wolfgang Schäuble's (president
of parliament) contribution to the debate, who said some time ago that there is
one supreme value in the German constitution: human dignity. People have a
right to live and die in dignity. The
special, lonely situation of the performance made me being confronted with
myself already in the work with this first article. The question arose what is
involved in granting one's own human dignity. Do I deal with myself and with
others in a way that is consistent with my own dignity? Seen in this light, a
life with dignity seems to me to be quite a challenge.
Phase 2: Right to live
(Article 2). Article 2 already expresses the right to live and physical
integrity. This is the fundamental right that is central in times of Corona,
because this fundamental right is endangered by the virus for big parts of the
population.
All the restrictions on fundamental rights, as being experienced at the moment, are based on the
consideration that the threat to life and health for so many people obliges
them to give this fundamental right special protection for a period of time
and, to this end, to partially restrict other fundamental rights - until the
acute threat from Covid19 is over. I consider this argumentation to be adequate
and I know that there are also other opinions on this.
On the personal level, a thought has crept in during this phase
that declared energy and freedom to be the two factors necessary
for life. In order to be able to exercise my right to live, I need both: the
life energy that gets me moving and the free space in which I can move. Vocally
and physically there was an interplay between inhalation into the lower DanTien
in the lower abdomen and sounds from the heart area.
Phase 3: Right of
assembly (Art. 8). No other fundamental right was restricted during the
Corona crisis as much as the right to "assemble without registration and
permission, peacefully and without weapons". This is difficult to bear. At
least in part, the right has been upheld with the help of digital platforms for
common communication. This is not an adequate substitute, but it is something.
The quarter-hour voice action in this phase has developed into an assembly of
the various "voices", sound colours or parts of voice. Every breath a
new guest.
Phase 4: Freedom of
movement (Art. 11) This article was also under severe pressure. Restrictions on the freedom of travel have
been known in Europe until not too long ago. The iron curtain hung until 1989
and I still remember from that period being annoyed by outrageous border
controls in Luxembourg, on my hitchhiking trips to Paris. The ecological
advantages of travel stops cannot make up for the fact that one of the
fundamental and not necessarily self-evident freedoms was suspended here for
many weeks. On the vocal-personal level, I have used the phase for a vocal
journey, where each new tone picked up where the previous one left off, in
order to keep on wandering.
5. Essence (Art.19).
"Under no circumstances may a fundamental right be touched in its
essence." Are some of the fundamental rights affected by Corona in their
essence? The discussion will probably continue for a long time. Decisive for an
answer could be whether a time factor is allowed or not. Is it possible to
restrict one fundamental right in favour of another fundamental right for some
time without affecting the essence of the right? This question can only be
answered in the affirmative if the restrictions are removed as soon as
possible. Vocally speaking, I have connected the idea of essence with breathing.
Breath belongs to the essence of the voice. This is what I have been working on
for the last quarter of an hour.
The performance was a strong experience and it cost me a lot of
energy, which became evident only afterwards. I am very happy that I did it
despite or because of the strange circumstances and I am looking forward to get
back in direct contact with others in the upcoming actions concerning the Fundamental
Laws!
E.g. on 31 May or on 7 June, when I recite the Fundamental
rights of the German Constitution in front of the Bohde Window in Cologne Nippes, where my GG-walk will be
"exhibited" – both recitings start at 3 pm.
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