Schon gestern Abend hatte ich den Gedanken, aus Wettergründen die Wanderetappe heute abzuschließen und zurück nach Köln zu fahren. Das habe ich in die Tat umgesetzt. Zwar war das Wetter heute Morgen freundlicher als gestern, aber noch immer sind die Temperaturen so, dass ich nicht mit offener Neugierde durch die Gegend schlendern oder draußen stehend Rezitationen abhalten wollte.
Doch der Reihe nach. In dem sehr netten Gasthof in Geising, wo ich am Abend untergekommen bin, fand eine Veranstaltung der Biathleten der Region statt. Das war in dieser Woche das vierte Mal, dass es in dem Haus, in dem ich übernachtet habe, eine große Feier oder eine Versammlung gab. Zufall oder wird im Erzgebirge viel gefeiert? Teilweise waren die Zusammenkünfte Vereinsaktivitäten und verweisen auf Art 9 GG: Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.
Am Morgen saß ich beim Frühstück mit dem einen anderen Übernachtungsgast am Tisch. Wir kamen ins Gespräch und er erzählte, dass er aus der Pfalz stammt und hier in Geising vor 20 Jahren "mit Förderung des Bauministeriums" ein größeres Wohngebäude mit mehreren Einheiten gekauft und renoviert hat. Ein Immobilienunternehmer also und ich habe die Gelegenheit ergriffen, ihn nach seiner Meinung zu der Enteignungsdebatte in Berlin zu fragen. Seine Antwort lief darauf hinaus, einen Unterschied zwischen Unternehmern wie ihm und den großen Konzernen, die als AGs börsennotiert sind, zu machen. Letztere sind in viel ausschließlicherer Art an Renditemaximierung interessiert. Das Wohl der Mieter spielt da eine untergeordnete Rolle.
Das leuchtet mir ein und daraus könnte man auf eine besondere Lösung des Problems schließen. Artikel 15 GG spricht ja von "Vergesellschaftung oder anderen Formen der Vergemeinschaftung". Statt die Deutsche Wohnen AG zu enteignen und die Stadt Berlin zur Eigentümerin zu machen, sollte man das Unternehmen oder den Wohnungsbestand in eine Genossenschaft überführen. Überhaupt wäre zu überlegen, ob der Staat in Einklang mit den Grundrechten vermeiden müsste, dass ein Grundbedürfnis (ein Leitthema dieser Woche!) wie das Wohnen von rein wirtschaftlich ausgerichteten großen Unternehmen als Ware behandelt werden darf. Ein mehrheitlich genossenschaftlich ausgerichteter Wohnungsmarkt hätte nicht zu einer so dramatischen Situation geführt, wie sie heute in vielen deutschen Städten herrscht. Das GG würde hier mit Artikel 14 und 15 einiges erlauben.
Das Frühstücksgespräch streifte noch andere politische Themen und der pfälzische Unternehmer sah die neoliberale Dominanz des Geldes in unserer Gesellschaft durchaus kritisch. Ich habe mit ihm auch über die GG-Wanderung gesprochen. Er fragte, ob ich vom Innenministerium oder vom Bundespräsidenten gesponsert würde. Ex-Präsident Gauck sei doch auch gerade in Sachen Deutsche Einheit unterwegs. Damit spielte er auf eine Sendung an, die vor ein paar Tagen lief und die ich zufällig ebenfalls gesehen hatte. Gauck traf sich darin mit verschiedenen Leuten, um mit ihnen zu sprechen, u.a. mit einem Pegida-Aktivisten und mit Frauke Petry. Die verkörpert ja eigentlich eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte und Gauck hat recht, wenn er ihr Gerede von der Ohnmacht der Bürger mit Hinweis auf ihren Werdegang als falsch bezeichnet.
Jedenfalls war mein Gesprächspartner ganz interessiert an meiner GG-Aktion und hat sich ein Kärtchen mitgenommen. Auch der Gastwirt zeigte sich neugierig und so bin ich noch eine Karte losgeworden und habe mich frohen Mutes auf den Weg nach Lauenstein gemacht.
In Geising sprach mich noch eine Frau auf der Straße an und fragte, wo ich denn hinwandere.
Auf dem Weg nach Lauenstein war zu bemerken, dass ich das Erzgebirge gerade verlasse. Die Landschaft wurde sanfter und freundlicher.
Lauenstein ist ein hübsches Dorf mit Burg und einem alten Ortskern. Am Morgen waren auf den Straßen Bewohner mit Schaufel und Besen hantierend zu sehen, die die Wege und Plätze vom Winter reinigten. Die Bäckerin erzählte, das würde einmal im Jahr an einem Frühlingssamstag gemeinschaftlich gemacht. Da ist sie wieder, die Gemeinschaft. Außerdem erinnert mich die Aktion an Art. 12 GG, wonach niemand zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden darf, "außer im Rahmen einer herkömmlichen, allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht". Auf freiwilliger Basis ist eine solche Arbeit viel gemeinschaftsfördernder.
In Lauenstein bin ich in den Zug gestiegen.
Gibt es ein Fazit der Wanderwoche? Nach meiner Erfahrung, die man nicht ohne weiteres verallgemeinern kann, sind die Leute hier freundlicher und offener als ich das in anderen Regionen auf meinem Weg durch die Republik erlebt habe. Nirgendwo bin ich so oft gegrüßt worden, oft mit einem Spruch oder einer Frage verbunden. Andererseits ist es mir schwer gefallen, Menschen zu finden, die mit mir über die GG-Wanderung sprechen wollten. Das hatte diese Woche sicher auch damit zu tun, dass außer mir kaum jemand unterwegs gewesen zu sein scheint. Ich habe keinen einzigen anderen Langstreckenwanderer getroffen. Dementsprechend habe ich mich meistens mit mir selbst unterhalten und die Anregungen sozusagen am Wegesrand gesucht. Die Zahl dieser Anregungen hat mich nicht gerade überfordert, auch wenn es ein paar inspirierende Überraschungen gegeben hat. Die Kulturdichte ist im Erzgebirge nicht ungewöhnlich hoch und die kulturhistorischen Zeugnisse aus dem Bergbau und der spätmittelalterlichen Glasherstellung besitzen wenig Relevanz für das Thema Grundrechte. Auch aus der erzgebirgischen Volkskunst konnte ich für das GG wenig Funken schlagen.
Aber es gefällt mir gut, dass die Anregungen eher abseits zu finden waren.
Jetzt heißt es nochmal durchatmen und Mitte Mai geht es dann weiter mit der finalen Wanderetappe, an deren Ende ich spätestens am 23. Mai in Görlitz ankommen möchte. Es gibt Pläne für eine kleine Veranstaltung dort, über die ich noch genaueres mitteilen werde. Außerdem haben bereits einige Freundinnen und Freunde der GG-Wanderung ihre Absicht bekundet, zum Wanderfinale nach Görlitz zu kommen und/oder ein paar letzte Etappen mitzuwandern. Wer sich dort noch anschließen möchte, ist dazu herzlich eingeladen.
Fundstücke:
Installationen 1+2