Bevor ich zu meiner Wanderung aufgebrochen bin, habe ich mein wöchentliches I-Ging geworfen, das mir für die Tage das Hexagramm mit dem Titel "Das Entgegenkommen" präsentiert hat. Schon an sich sehr passend. Außerdem hat es mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich zwar mit der Welt in Kontakt gehen soll, aber ohne mich von ihr vereinnahmen zu lassen.
Heute ging es wie geplant pünktlich um 12h los mit dem zweiten Teil der GG-WANDERUNG und mit einer zweifachen Rezitation der Grundrechte vor dem Hexenturm in Rheinbach. Vor der Rezitation hat sich ein älterer Mann interessiert über meine Infofolie, die ich immer auslege, gebeugt. Als ich ihm eine Karte in die Hand geben wollte, um mit ihm ins Gespräch zu kommen, hat er sich schweigend verzogen.
Aus
den Zuhörern der Rezitation gab es einige Reaktionen: Eine Frau meinte,
sie habe ein Gefühl der Erhabenheit in sich gespürt, besonders in der
Wiederholung. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Auch mir geht es
manchmal so, dass der Text in der Konfrontation mit einer alltäglichen
Szene eine Art Würde gewinnt. Ein
anderer Zuhörer meinte, er habe beim Zuhören erst die starken
Parallelen zur amerikanischen Bill of Rights erkannt. Daraus entsponn
sich ein Gespräch über die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen
beiden Texten. Mir sind in erster Linie zwei Unterschiede aufgegangen.
Zum einen beginnt die amerikanische Verfassung mit "we, the people"; das
ist eine Formulierung, die unmöglich hätte am Anfang einer deutschen
Verfassung nach dem Ende des 2. Weltkrieges stehen können! Und im
Grundgesetz ist nicht die Rede vom "pursuit of happiness" dem Streben
nach Glück, das in der amerikanischen Version so wichtig ist. Das Fehlen dieses Themas hat
etwas sehr deutsches, ja. Bei
beiden Unterschieden bin ich aber auf der Seite der deutschen Verfassung.
Nicht das Volk, sondern die Würde des Menschen eröffnet die Liste der
Grundrechte passend. Und Glück? Was ist das? Was hat das in der
Verfassung zu suchen? Große Fragen, die Stoff für viele Gespräche
bieten.
Außerdem
gab es als Reaktion auf die Rezitation, wie schon ab und zu vorher, den Hinweis, dass das GG zwar gute und wichtige
Rechte formuliert, die Realität in Deutschland aber anders aussieht. Da
komme ich später nochmal drauf zurück.
Danach sind wir mit einer kleinen Wandergruppe von vier Leuten in Richtung Bonn gestartet. Nicht ganz auf der von mir vorgesehenen Strecke, sondern etwas nördlicher. Hat auch etwas länger gedauert. Mit uns gegangen ist eine Frau aus dem Ruhrgebiet, deren Familiengeschichte illustriert, wie lang der Weg der Grundrechte des GG in die Köpfe und Herzen der Menschen ist. Ihr Vater hat als Soldat am Ende des 2. Weltkrieges das einzige Vernünftige getan und ist desertiert. Art.4 Abs.3: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Das war zur Nazizeit natürlich anders, aber auch in der jungen Bundesrepublik galt Desertion als eine Art Verrat. Und damit war es mit der Karriere in Deutschland nichts. Die Rehabilitierung der deutschen Deserteure ist noch immer nicht abgeschlossen. Die Ansprüche, die das GG an die Bürger*innen stellt, müssen z.T. schwer und langwierig erarbeitet werden.
Als wir unterhalb von Alfter nach Bonn kamen, bot sich eine Frau von sich aus an, uns zu sagen, wie wir weiter und zum Bahnhof nach Duisdorf kommen. Sie ging ein paar Schritte mit uns, erzählte, dass sie beim Spazierengehen gut lernen könne, im Moment Italienisch. Als ich meine GG-Wanderung erwähnt hatte, fiel ihr zuerst ein, dass sie als junge Frau mal ein Gedicht über Juristen geschrieben habe, dann kam sie auf den napoleonischen Code civil. Am Ende gab sie mir sehr energisch die Hand und schien ganz beeindruckt von meinem Vorhaben.
Fundstücke:
ein ordentlicher Apfelbaumhain...
und ein "deutsches" Fenstergitter:
In einem Leserbrief in der Wochenzeitung "Der Freitag" vom 3. August glaubt ein Leser, sich auf den Artikel 20 und das dort festgeschriebene Widerstandsrecht berufen zu können. "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." (Art.20, Abs.4) Der Leserbriefschreiber betont, dass es sich bei dem Widerstand gegen die Aushöhlung unseres Rechtsstaates - für die man ja tatsächlich Indizien finden kann - um friedlichen Protest handeln muss! Der aber werde immer mehr kriminalisiert.
Für uns ist in dem Zusammenhang die Frage interessant, wer denn überhaupt feststellen kann, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung in Gefahr ist. Jeder einzelne Bürger? Das Bundesverfassungsgericht? Die besorgniserregenden Entwicklungen in anderen Ländern, etwa Polen, Ungarn, Türkei, zeigen, dass die Ordnung besonders dann gefährdet ist, wenn das Verfassungsgericht eines Landes seine Unabhängigkeit verliert und geschwächt wird.....
Diesmal kann ich nicht mitwandern, konnte aber den Start in Rheinbach noch begleiten. Ich habe gemerkt, es braucht wirklich Mut, diese Wanderung durch zu führen - Ralf setzt sich ganz schön aus - den Orten, den Menschen, dem ständigen Wiederholen dieses starken Textes.
AntwortenLöschen