Wer hätte gedacht, dass sich die April-Etappe zu einer Winterwanderung entwickeln würde? Es ist wohl überall in Deutschland gerade kalt; hier im Erzgebirge hat es am Morgen, als ich aus dem Hotel trat, begonnen leicht zu schneien. Schneegriesel nennt man das, glaube ich. Eingepackt in so ziemlich alles, was mein Rucksack an warmen Kleidungsstücken zu bieten hat, bin ich losgegangen. Statt dem WDE zu folgen, bin ich bald auf dem Kammweg gelandet, der in diesem Teilstück auf einer anderen Strecke verläuft. Der Grund dafür ist schlicht, dass ich gleich zweimal die Abbiegung des WDE verpasst habe.
Das hat sich am Ende als gleich zweifacher Vorteil erwiesen. Der erste bestand darin, dass ich auf den Kahleberg gewandert bin, der 905 Meter hoch ist und damit höher als der Hirtstein, von dem ich Anfang der Woche annahm, er sei der höchste Berg, den ich auf dieser GG-Wander-Etappe besteigen würde. Jetzt ergab sich die Gelegenheit, meiner schon fast alt zu nennenden Gewohnheit nachzugehen und auf dem Gipfel eine Rezitation der Grundrechte zu machen.
Die erste und einzige Rezitation des Tages fand um 11.30 h statt.
Ich werde hier nicht darüber lamentieren, wie kalt es da oben war, aber ich hoffe inständig, dass dies die einzige Rezitation bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt bleiben wird. Eine echte Herausforderung. Doch - der Kältekalauer sei mir verziehen - das GG gilt auch unter Null Grad Celsius.
Nein, es gab bei der Rezitation kein Publikum, obwohl der Betreiber der (geschlossenen) Baude kurz aus der Tür trat, sich wunderte, was ich da wohl treibe, schnell erkannte, dass ich keine Gefahr darstelle und wieder verschwand.
Nach der vergleichsweise schnell vollzogenen Rezitation machte ich mich an den Abstieg nach Altenberg, und der zweite Vorteil des mehr oder weniger freiwillig gewählten Weges bestand darin, dass ich dort wo sich die Tourist Info befindet, in den Ort kam. Da wollte ich in Erfahrung bringen, ob es in den Ortschaften auf dem Weg, die ich heute noch erreichen könnte, eine Unterkunft gebe. Im Internet hatte ich nichts finden können. Die Antwort war nein. Der Wanderweg führt von Altenberg durch eine der typischen Zwischenregionen. Das Erzgebirge liegt hinter mir und die sächsische Schweiz fängt noch nicht so richtig an. In solchen Gegenden übernachten anscheinend keine Feriengäste. Mir blieb nichts anderes übrig als nur zum nächsten Ort namens Geising zu laufen und im Gasthof ein Zimmer zu nehmen.
Vor lauter Übermut habe ich noch einen Umweg über den Geisingberg eingelegt, auch immerhin ein 800er, mit einem Louisenturm und einer Tafel, die bezeugt, dass Alexander von Humboldt hierselbst im Jahr 1828 Höhenmessungen durchgeführt hat. Außerdem gibt es eine nette Baude, mit einem Kachelofen, der den Raum sehr gut heizt. Die anderen drei Gäste unterhielten sich über Lehrlinge, die heutzutage Auzubildende heißen und nicht mehr in der Lage sind, eine Lehre abzuschließen und über sündhaft teure Autos, die trotz des Preises sofort kaputt gehen. Klagen, die man wahrscheinlich überall in Deutschland hören kann.
Ich habe keine Lust verspürt, die drei Leute in ein Gespräch über das GG zu verwickeln. Meine kommunikativen Fähigkeiten haben diesbezüglich enge Grenzen. Später, als ich wieder auf dem Weg war, fiel mir eine Reaktion ein. "Das kaputte Auto ist eine Strafe der Götter", hätte ich sagen können, "dafür, 68000 Euro für ein Auto ausgegeben zu haben. Was hätte man mit dem Geld nicht alles an sinnvollen und hilfreichen Dingen machen können?" Sicher bin ich mir aber nicht, ob ich damit ein anregendes Gespräch initiiert hätte.
A propos Götter. Mir ist heute ein interessanter Unterschied zwischen dem Erzgebirge und anderen Mittelgebirgen, die ich kenne, aufgefallen. Hier gibt es keine Kreuze, keine kleinen Kapellen, keine religiösen Wegmarken. Die Säkularisierung ist in dieser Hinsicht sehr weit gekommen. Immerhin steht in Geising, dem Ort, in den ich danach gegangen bin, ein Reformationsstein, der 1917 zum 400. Jahrestag der Thesenanschläge Luthers eingeweiht wurde.
Das war mitten im 1. Weltkrieg, aber eine Friedensbotschaft findet sich auf dem Stein nicht. Stattdessen soll das eingemeißelte Lutherwappen an seine Losung erinnern: Das Christenherz auf Rosen geht, wenn´s mitten unterm Kreuze steht.
Das hört sich in dem Zusammenhang der historischen Situation eher wie eine Durchhalteparole an.
Die Glaubensfreiheit wird im GG gleich an mehreren Stellen garantiert, so in Art. 3 und in Art. 4. Die Freiheit des Glaubens ist unverletzlich und niemand darf wegen seines Glaubens benachteiligt oder bevorzugt werden. In Art. 7 GG gibt es noch den Absatz, in dem den Erziehungsberechtigten das Recht zugestanden wird, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. Ein kleines aber nicht unwichtiges Grundrecht!
Eine warme Suppe habe ich dann in einem sehr merkwürdigen Wirtshaus in Altenberg gegessen, das es mit der Heimatliebe nicht nur übertreibt, sogar auf eigens angefertigten Plakaten an der Hauswand Politikerbeschimpfung betreibt. Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass ich die Plakate erst nach der Suppe gesehen habe.
Artikel 5 GG: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten.
Die eher unappetitlichen Äußerungen an dieser Hauswand werden von der Meinungsfreiheit noch gedeckt. Da ist von Idioten die Rede, die uns regieren und davon, dass Grüne und Sozialdemokraten "immer" irren, ein Vorwurf, der angesichts von 30000 Hektar Wald, der hier durch Luftverschmutzung zerstört worden sind, von einem ideologisch beschränkten Weltbild zeugt. Soweit mein Ausflug in die tagespolitische Sphäre.
Ich bin dann schnell weiter, wie gesagt erst auf den Geisingberg und dann in den Ort Geising, der einen sympathischen Eindruck bei mir gemacht hat. Untergekommen bin ich im Gasthof Ratskeller, wieder einer der eher einfachen und wenig modernen Häuser, die ich auf der GG-Wanderung bevorzuge.
Fundstücke:
unbeabsichtigte Kunst im öffentlichen Raum 1+2
beabsichtigte Kunst im öffentlichen Raum 1+2
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