Beim Frühstück im St. Wenzelslaus Stift habe ich eine Mitarbeiterin des Hauses auf das Exemplar des Grundgesetzes im Zimmer angesprochen. Wegen des 70. Jahrestages ist es in alle Zimmer des Hauses gelegt worden. Das fand ich natürlich großartig und habe ihr von der GG-Wanderung erzählt. Sie hat direkt den Leiter des Bildungszentrums gerufen, der an dem Thema sehr interessiert ist und am 23. Mai eine Veranstaltung zum GG mit Kirchenvertretern durchführt. Der Leiter war von der GG-Wanderung sehr angetan und hatte die Idee, mich in seine Veranstaltung zu integrieren. Aber ich bin schon anderweitig verplant.
Wir hatten ein sehr intensives und anregendes Gespräch über verschiedene Aspekte des GG. Es ging z. B. um das Christentum als Quelle für einige wichtige Grundrechte, wie die Würde aus Artikel 1 und die Gleichheit aller Menschen in Artikel 3, um die Fehlentwicklungen des Neoliberalismus und die Frage, welche echten gesellschaftspolitischen Probleme den fehlgeleiteten rechtspopulistischen Tendenzen zugrunde liegen. Inwieweit geht es da um schwindende Gerechtigkeit, um angegriffene Würde oder um den Versuch, Zugehörigkeit und Identität zu finden? Wieso funktioniert das mit den Gewerkschaften nicht mehr gut? Oder mit den Kirchen, könnte man hinzufügen. Oder mit der Partei der Linken?
Es gibt viel zu besprechen. Mir ist in dem Gespräch nochmal deutlich geworden, dass das Unbehagen an der neoliberalen Kultur längst die sogenannte Mitte der Gesellschaft erreicht hat. Bis hin zur ethischen Infragestellung von Aktienbesitz, der nur den Renditen, aber nicht dem Allgemeinwohl dient, werden die Strukturen dieser Welt, die aufs falsche Pferd des fast ungezügelten Kapitalismus setzt - statt auf die Werte des GG - von Teilen der gesellschaftlichen Mitte kritisiert und angeprangert.
Ein weiterer Punkt in dem Gespräch war die allgemeine Entwertung der Provinz und ihrer Lebensformen in der öffentlichen Wahrnehmung und medialen Präsenz. Da bin ich selbst nicht ganz frei von Ressentiments. Ich genieße das großstädtische Leben mit seinen Freiheiten, aber durch die GG-Wanderung habe ich eine Ahnung davon bekommen, wieviel Provinz es in Deutschland gibt und wieviele Menschen in der Provinz leben. In der Wahrnehmung dieser wenig repräsentierten "Mehrheit" gibt es in Politik, Öffentlichkeit und Kultur sicher Korrekturbedarf.
Nach dem guten Gespräch habe ich mich entschieden, um 9.40 Uhr
die erste Rezitation des Tages im Hof des Wenzelslaus-Stifts zu machen.
Von der Landeskrone, dem Hausberg von Görlitz haben wir nicht viel gesehen. Er war im Nebel versunken.
Schon in den Randbezirken der Stadt sind wir auf weitere"Verstärkung" aus Köln getroffen. Karin L., Freundin und Mitglied von unserem Ensemble KörperSchafftKlang kam uns mit ihrer Schwester entgegen, um uns auf den letzten Kilometern zu begleiten.
Der Weg führte uns an einem großen jüdischen Friedhof vorbei, wo wir eine neue Gedenkstätte aus dem Jahr 2015 fanden, mit der der Juden gedacht wird, die im nahegelegenen KZ Biesnitz 1945 ermordet wurden. Die Skulptur aus Eisen ist in ihrer Zurückhaltung sehr beeindruckend. Links am Wegesrand liegt eine Schiene am Boden mit Text in hebräisch und deutsch. Rechts sieht man eine Reihe von Stelen und die Inschriften der Namen der Ermordeten, soweit sie bekannt sind.
Das war kein Ort für eine Rezitation, die Gedenkstätte und der Friedhof verlangen Schweigen.
Ein sportlich gekleidetes Paar fragte mich/uns, ob wir auf dem Jakobsweg pilgern und ich sagte, dass unsere Pilgertour über den WDE von Aachen nach Görlitz geführt hat. Die GG-Wanderung fanden beide interessant, den Mann beschäftigte die Frage, warum der Wanderweg der Deutschen Einheit gerade in Aachen beginnt.
In der Nähe des Bahnhofs habe wir eine Rast eingelegt und uns mit Kaffee und erstaunlich gutem Kuchen für das letzte Stück des Weges gestärkt.
Auf den letzten Metern zur Brücke über die Neiße, wo der WDE beginnt bzw. in meinem Fall endet, war ich innerlich doch ziemlich bewegt. Hier geht eine Aktion zu Ende, die mich gut zwei Jahre lang beschäftigt hat und die nicht nur während der Wanderung, sondern auch in den Zwischenzeiten prägend auf mein Leben wirkte.
Die GG-Wanderung ist jetzt so gut wie abgeschlossen. Das ist für mich eine große Sache. Was das genau bedeutet, wird sich erst im Abstand zeigen.
Jedenfalls habe ich um 13.30 Uhr die zweite Rezitation des Tages (1x) gemacht.
Ein emotionaler Moment.
Danach habe ich meine Begleitgruppe zu einem Glas Sekt eingeladen. Das Café, in das wir gegangen sind, hatte nur Prosecco und so kam zuguterletzt noch einmal die europäische Perspektive mit ins Spiel.
Danach ging es in die schöne Alte Ofenfabrik, wo wir zwei Ferienwohnungen gemietet haben, und wo morgen eine kleine Abschlussveranstaltung stattfinden wird.
Fundstücke:
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