Gestern war ich in Köln bei einer Veranstaltung des Kulturrates NRW zum Thema "Demokratie und Kultur" und dabei ging es unter anderem um die in Art. 5 GG garantierte Kunstfreiheit, die zur Zeit von verschiedenen Seiten angegriffen wird. Neben der stärksten Bedrohung von rechtsaußen wurde eine andere Gefahr angesprochen, die von einigen Referentinnen in der zu rigiden Ausprägung des Diskriminierungsschutz für bestimmte gesellschaftliche Gruppen gesehen wurde. Als Beispiel kam die Rede auf das Gedicht von Eugen Gomringer, das vor einiger Zeit von der Wand der Alice-Salomon Hochschule in Berlin verschwinden musste, weil sich Studentinnen und Studenten davon angegriffen und/oder beleidigt fühlten. Es handelt sich hier offenbar um einen Konflikt zwischen einerseits den Grundrechten aus Art. 1 GG (der Menschenwürde) und Art. 3 GG (der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und dem Verbot von Benachteiligung oder Bevorzugung aufgrund von "Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöser oder politischer Anschauungen") und andererseits der Freiheit der Kunst.
Über die Gewichtung der Grundrechte in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage gab es unter Referenten und Publikum sehr unterschiedliche Ansichten.
Ich gehörte bislang zu der Partei, die auf die moralisch legitimierten Angriffe auf die Kunstfreiheit mit Polemik reagiert haben. Aber mich hat ein Argument der anderen Seite nachdenklich gemacht, das darauf hinwies, dass wir historisch gesehen zum ersten Mal überhaupt in einer Situation sind, in der so gut wie alle Diskriminierungen öffentlich angesprochen und angeprangert werden können. Das hat es so noch nie gegeben und stellt einen großen gesellschaftlichen Fortschritt dar. Diese Entwicklung gilt es im Moment zu fördern, und für ein paar Jahre sollte man übertriebene Reaktionen wie die der StudentInnen in Berlin nicht zu ernst nehmen. Auf Dauer wird sich die Balance zwischen den Grundrechten wieder einspielen. Ich finde, da ist was dran und die Wachsamkeit gegen jeden Angriff auf die Kunstfreiheit braucht an dieser Stelle - anders als in der Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus - eine gewisse Kontextualisierung.
Außerdem wurde kurz der Begriff des Sittengesetzes angesprochen, der in Art. 2 GG vorkommt und wie ein Überbleibsel aus alter Zeit wirkt. Die kurzen Bemerkungen vom Podium schienen darauf hinauszulaufen, dass das Sittengesetz in früheren Zeiten eine Einschränkung der Kunstfreiheit bedeutet hätten, die es heute so nicht mehr gibt, weil der Begriff selbst von Juristen weitläufig umschifft wird. Ich habe an anderer Stelle hier im Blog dafür plädiert, dem Sittengesetz eine neue Bedeutung zu geben, die mit der Frage der Kunst nur indirekt zu tun haben muss, und zunächst darauf hinzielt, ein neues Ethos der Kommunikation im Netz zu entwickeln. Dort sieht man ja gerade, was passiert, wenn sich große Teile der sogenannten Community (die nichts Gemeinschaftliches an sich hat) an keinerlei Sittengesetz mehr halten. Das führt zu einer Verrohung der "Sitten", die auf lange Sicht auch der Kunst ihren Platz bestreiten wird. Also Mut zum Sittengesetz ist angesagt, auch um die Freiheit der Kunst zu schützen!
Eine Wander- und Rezitationsperformance von Ralf Peters (stimmfeld). Vom 8. Mai 2017 bis zum 23. Mai 2019 bin ich mit den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes im geistigen Gepäck (= die Grundrechte +1) quer durch Deutschland von Aachen nach Görlitz gewandert und habe die Grundrechte an Etappenstopps und ansprechenden Orten rezitiert.Dieser Blog ist das Reisetagebuch zu dieser Wanderperformance.
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Der oben beschriebene Konflikt zwischen verschiedenen Grundrechten, der sich am Gedicht von Eugen Gomringer an der Hochschulwand festmacht, muss möglicherweise als unlösbar stehengelassen werden. Ambiguitätstoleranz kann daran eingeübt werden! Stephan aus Berlin-Schöneberg
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